Der Faktor X in der Produktentstehung

BOSTON, Ende Juni (bv). Neuere Untersuchungen belegen, dass die größte Stadt Neuenglands und Hauptstadt des US-amerikanischen Bundesstaats Massachusetts den ersten Platz der Top-25-Start-up-Hubs in Amerika belegt. Hierzu tragen auch die umliegende Städte wie Cambridge oder Needham bei, in letzterer übrigens ist die Parametric Technology Corporation (PTC) beheimatet – noch muss man freilich anmerken, denn bald wird in die neue Firmenzentrale im Seaport District von Boston umgezogen, in unmittelbarer Nähe zum Meer.

Als Heimat von mehr Universitäten als von jeder anderen Stadt in den Vereinigten Staaten leben dort 39 Prozent der Erwachsenen im Alter von 18 bis 34 in Boston und haben einen Bachelor-Abschluss. Die Stadt beherbergt auch viele der besten MINT-Schulen (Wissenschaft, Technik, Technik und Mathematik) des Landes – Human Resources also in Hülle und Fülle, wenn man so will. Von diesen ausgezeichneten Voraussetzungen profitieren viele Firmen, auch PTC.

Dass der PLM-Systemanbieter weiterhin auf zweistellige Wachstumsraten verweisen kann, hat freilich nur bedingt mit diesem Quell der Jugend zu tun, vielmehr waren es zwei strategische Schachzüge des Managements um CEO James („Jim“) E. Heppelmann: Die Übernahme von ThingWorx (Exton, Pennsylvania) und deren gleichnamige Software-Plattform für den Aufbau und Betrieb von Anwendungen für das Internet der Dinge (IoT) 2013 und zwei Jahre später der Erwerb des Vuforia-Geschäfts von Qualcomm Connected Experiences (San Diego, Kalifornien). Die Vuforia-Plattform ist mit einer Marktabdeckung von rund 80 Prozent der Platzhirsch unter den Augmented-Reality-Plattformen. Dies machte einmal mehr das diesjährige Anwendertreffen LiveWorx 2018 mit seiner Vielzahl an Demostationen rund um diese sogenannte Erweiterte Realität deutlich.

Rund 6 000 Besucher konnte der Veranstalter im Boston Convention and Exhibition Center auf dem dreitägigen Event zählen. Besonders beeindruckend war der Partner Pavilion „Xtropolis“ (unser Bild), ein Fußballfeld großes Erlebniszentrum mit einer Vielzahl von Showcases aus den Bereichen Entwicklung, Fertigung, bereits erwähnter AR/VR und Connectivity. Nicht nur PTC, auch 100 Partnerfirmen präsentierten dort ihre Innovationen, teilweise mit enormer Verve.

„Neugierde erzeugt Chancen“, sagte der Digital-Lifestyle-Experte Mario Amstrong, der als Moderator das Auditorium durch die Veranstaltung begleitete. Der Event diene dazu, so Amstrong, „das eigene Denken unter Strom zu setzen“, bei seinem Auftakt, durchaus die Rolle des Animateurs einnehmend.

Es folgte CEO und President Jim Heppelmann, der mit viel Applaus empfangen wurde. Heppelmann begann seine Rede mit markigen Worten: „Vom festen Ort zum Tempo, zur Bewegung – Trägheit ist Ihr Hauptkonkurrent, weil es der Feind der Veränderung ist. Wir müssen an Tempo bei der Veränderung gewinnen.“

Die Präsentation des PTC-Chefs orientierte sich an den Koordinatenachsen „physisch“, „digital“ und „menschlich“. So ging er auf die Neuerungen von Creo 5.0 ein, zum Beispiel auf neue Funktionen für die Topologieoptimierung, Analyse (numerische Strömungsmechanik), Additive Fertigung, Computer-Aided Manufacturing (CAM), AR und Multi-CAD, um real existierende –physische – Produkte zu erschaffen. Mit Creo Topology Optimization lassen sich Konstruktionsziele und Randbedingungen definieren, auf deren Basis eine optimierte parametrische Geometrie erzeugt wird. Was früher mehrere Wochen in Anspruch nehmen konnte, ist in Creo 5.0 in wenigen Sekunden erledigt, weil die Geometrie nicht neu erstellt werden muss. Ein Algorithmus unterbreitet eigenständig entsprechende Vorschläge. Außerdem ermöglicht Creo 5.0 dank der Unterstützung der Kunststoffdrucker von Stratasys und 3D Systems sowie einer Bibliothek mit Materialise-fähigen Geräten den 3D-Druck mit Polymeren und Metallen gleichermaßen.

Dann wurde Ajei Gopal, CEO von Ansys, auf die Bühne gebeten und es folgte eine Art Frage-Antwort-Runde über die Bedeutung der Simulation im PLM-Zyklus. Zum Hintergrund: Gemeinsam werden Ansys und PTC die neue CAE-Lösung Discovery Live in die 3D-CAD-Softwareumgebung von Creo integrieren. Diese Lösung wird eine einheitliche Modellierungs- und Simulationsumgebung bieten, so dass die Grenzen zwischen CAD und CAE verschwinden. In diesem Herbst soll sie für die Creo-Kunden verfügbar gemacht werden. Auch kündigten beide CEOs eine weitreichende IoT-Partnerschaft an.

Den Themen „human“ und „digital“ ging Heppelmann am Beispiel der Zusammenarbeit mit Microsoft (Redmond, Massachusetts) bei der Cloud-Plattform Azure und bei Mixed-Reality-Anwendungen, etwa mit der Hololens, auf den Grund. Rodney Clark, VP IoT bei Microsoft, ließ Zahlen sprechen: Microsoft investiert fünf Milliarden US-Dollar in AR und hat bisher 25 Partner für dieses Segment verpflichtet. Und nun ist eben PTC auch dabei. Vorgestellt wurde als Ergebnis der Zusammenarbeit der Medizingerätehersteller Sysmex, dem es gelang, ein proaktives Service-Konzept einzuführen, so dass sich die Wartung und der Betrieb der ausgelieferten Geräte von einem Cost- zu einem Profit-Center wandeln konnte.

Zur Sprache kam auch eine AR-Demo von WayPoint, das kürzlich von PTC übernommen wurde. Das Start-up hat seine Wurzeln am MIT und der Harvard University. WayPoint Desktop Editor bietet eine neue Möglichkeit, Arbeitsanweisungen zu erfassen, und WayPoint Reality Editor, der derzeit im PTC Reality Lab entwickelt wird, nutzt diese Software-Technologien, um eine visuelle Programmiermöglichkeit für neue Maschinenschnittstellen und Steuerungssysteme zu schaffen.

Ein weiterer bemerkenswerter Auftritt in Heppelmanns Show war jener von Blake Moret, CEO von Rockwell Automation (Milwaukee, Wisconsin). PTC und Rockwell Automation haben sich auf eine weitreichende strategische Partnerschaft verständigt. Im Rahmen dieses Tête-à-Têtes wird Rockwell Automation eine Kapitalbeteiligung in Höhe von 1 Milliarde US-Dollar an PTC übernehmen und Moret nach Abschluss der Transaktion in den Vorstand von PTC eintreten.

Es soll eine gemeinsame Integrationsplattform geschaffen werden, die unter anderem FactoryTalk MES und FactoryTalk Analytics mit der Vuforia Product Suite verbindet. Ziel ist, die Effizienz von Großanlagen zu erhöhen, sagten beide CEOs. Für PTC hat die Partnerschaft zudem den Charme, dass Rockwell quasi als Türöffner für die Prozessindustrie dient. Es ist ein Markt, für den PTC zwar mehrere interessante Anwendungsszenarien offerieren kann, diese jedoch bisher nicht nachgefragt wurden, weil Referenzkunden fehlten, erläuterte Heppelmann. Außerdem: Rockwell verfügt über ein Verkaufsteam von 1 000 Mitarbeitern, die 35 000 Kunden betreuen. Diese sollen in Hinsicht auf IoT-Szenarien von PTC auf den Stand der Technik gebracht werden.

Fazit

Keine Frage, die Veranstaltung war ein voller Erfolg und das Ökosystem von PTC präsentierte sich lebendiger als je zuvor. Insbesondere fiel auf, dass ganzheitlich Fertigungsthemen angesprochen wurden, gerade durch Showcases auf der Sonderschau „X-Factory“. Deren Qualität ist durchaus vergleichbar in Sachen Durchgängigkeit und neuen Ansätzen mit dem, was SAP beispielsweise auf der letzten Hannover Messe zeigte.

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