Die Welt bereitet sich auf den Klimawandel vor

Nathan Marsh, Senior Vice President und Regional Executive Leader, EMEA, Bentley Systems, über die Bedeutung von Nachhaltigkeit bei Investitionen in Infrastrukturprojekte und wie der digitale Zwilling derartige Überlegungen stimuliert.

Nathan, wie weit sind die Investitionen in die Stärkung der Infrastruktur gediehen? Und welche Auswirkungen werden vom Klimawandel erwartet?
Nun, es ist großartig, diese erste Frage mit einem „Sehr Weit“ beantworten zu können. Tatsächlich sehen wir einen sichtbaren Anstieg an Investitionen in Nachhaltigkeit und Reduzierung des CO2-Fußabdrucks in der E&C-Branche und in der Lieferkette des Anlagenbaus. Diese Verbesserungsmöglichkeiten werden nicht nur von Regierungen, sondern auch von Private-Equity-Fonds wahrgenommen, die sich auf die Entwicklung, Bereitstellung und den Betrieb nachhaltiger Infrastrukturprojekte konzentrieren.
Es ist eine Sache, Wege zu finden, um den CO2-Fußabdruck zu quantifizieren und reduzieren zu wollen. Der nächste Schritt ist, ihn tatsächlich auch zu reduzieren – um auf den Punkt zu kommen: Sobald wir in der Lage sind, CO2-Emissionen zu identifizieren, sind wir auch in der Lage, ihn zu eliminieren. Und wenn wir das tun, müssen wir die Reduzierung auch nachweisen. Deshalb brauchen wir Daten, die zeigen, was wir im Laufe der Zeit an Reduktion erreicht haben.

Daten sind das Schlüsselwort in Ihrer Antwort. Welche Rolle spielt der digitale Zwilling in diesem Zusammenhang? Und: Sind sich die Investoren des Potenzials digitaler Zwillinge bewusst?
Viele sind sich dessen bewusst. Es gibt einige Beispiele, bei denen ein digitaler Zwilling verwendet wird, um geschäftsrelevante Daten sowie Planungs- und Konstruktionsdaten zu erfassen, zu speichern und zu visualisieren, um Zeit-, Kosten- und Qualitätsprobleme zusammen mit einem digitalen Bereitschaftsnachweis bei der Übergabe an den Betrieb zu verwalten.
Aus Sicht von Bentley bieten digitale Zwillinge eine durchgängige Einsicht in den gesamten Lebenszyklus einer Anlage. Mithilfe eines digitalen Zwillings können Daten über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg auf konsistente Weise und in einer Betriebsumgebung gespeichert werden. Der digitale Zwilling bietet auch die Möglichkeit, zu prüfen und zu verfolgen, woher die Komponenten stammen und wie und wo sie montiert wurden. Natürlich liefert ein digitaler Zwilling nicht alle Antworten, schließt aber Ausreden wie „Ich weiß es nicht“ aus. Ein digitaler Zwilling sorgt für Bewusstsein, Sicherheit, Ordnung und Kontrolle in einer zuvor chaotischen Situation.

Nutzen Sie bei Bentley Systems den Begriff „digitaler roter Faden (Digital Thread)“?
Ja, das tun wir. In diesem Zusammenhang gibt es allerdings viele ähnliche Begriffe, die ebenfalls im Wesentlichen auf einen konsistenten Datenfluss hindeuten, der in der Phase der Planung, des Baus, der Inbetriebnahme und Übergabe an den Anlagenbetrieb zu einem konsistenten, digitalen Abbild der Anlage führt. Wenn Sie einen digitalen Zwilling haben, sorgt dieser für diese Kontinuität und Stabilität und fungiert als „goldener“ (digitaler) Faden, der uns sagt, welche Planungs-, Entwurfs-, Ingenieur-, Bau- und Betriebsmethodik mit einer Anlage in Verbindung steht. Er kann dem Bau einen Mehrwert verleihen, da er alle gewonnenen Erkenntnisse wiedergibt. Mit anderen Worten: Dieser digitale Zwilling trägt einen wirtschaftlichen Mehrwert in sich.

Da kann ich mir die Frage nicht verkneifen: In Euro oder US-Dollar ausgedrückt, wie viel ist so ein digitaler Zwilling wert?
Das hängt vom Projekt ab. Er wird nicht null und nicht hundert Millionen betragen – er könnte einen sechs- oder siebenstelligen Betrag wert sein, beispielsweise abhängig vom eingesetzten Kapital und den Wartungskosten. Das ist wirklich spannend, denn es ist offensichtlich, dass es einen wirtschaftlichen Gegenwert gibt und gleichzeitig sich dadurch die Performance in der Bauphase steigern lässt.

Diskutieren Sie mit Ihren Branchenkontakten dieses Potential?
Das sind noch recht neue Gespräche. Denn die Branche beginnt gerade erst, digitale Zwillinge als Konzept zur Wertschöpfung anzuerkennen, beispielsweise bei einigen der größeren Private-Equity-Unternehmen. Eine der Fragen, die ich in solchen Gesprächen stelle, ist: Was ist Ihre Strategie, damit der digitale Zwilling zur Wertschöpfung beiträgt? Das könnte etwa in der Konstruktionsphase sein, um zu prüfen: Haben wir Effizienzgewinne durch den Einsatz von Robotern oder durch Vormontage außerhalb des Standorts erzielt? Bei der Erstellung eines Assets geht es auch um die wichtige Frage: Wem gehört der digitale Zwilling in der jeweiligen Phase? Wie kann er dabei Werte schaffen?
Was wir in Bezug auf Finanzierung und Investoren beobachten, ist, dass deren Einschätzung des Werts eines physischen Infrastruktur-Assets dann steigt, wenn ein digitaler Zwilling vorhanden ist, beispielsweise wenn Fehler auftreten und diese behoben werden müssen. Dies spart Kosten bei der routinemäßigen Wartung und zeigt, wie sich durch einen digitalen Zwilling eine Wertsteigerung einer Infrastruktur erzielen lässt. Für Regulierungsbehörden und Regierungen gibt es einen Wert über den gesamten Lebenszyklus, der ihnen bei der Genehmigung oder Finanzierungen zusätzliche Argumente verschafft. Abschließend möchte ich sagen, dass ich von den Fortschritten, die sich bei der Diskussion um den wirtschaftlichen Mehrwert von digitalen Zwillinge herauskristallisieren, wirklich begeistert bin.

Wie positioniert sich Bentley Systems in dieser neuen Debatte? Ist es sinnvoll, den ziemlich alten Begriff „Trusted Advisor“ dabei ins Feld zu führen?
Da ich in der Vergangenheit in verschiedenen Unternehmen in der Rolle des Kunden von Bentley Systems war, ist mir klar geworden, dass Vertrauen verdient werden muss. Ich bin davon überzeugt, dass Bentley als vertrauenswürdiger Berater für digitale Zwillinge eine einzigartige Führungsposition einnimmt. Warum sage ich das? Digitale Zwillinge für Infrastrukturprojekte wie Kernkraftwerke oder für Hochgeschwindigkeitszüge sind hochkomplex – der Projektumfang, die Anwendungsfälle sowie die Datenmengen sind enorm und wachsen über deren Lebenszyklus stetig weiter. Seit 40 Jahren konzentriert sich Bentley auf den Infrastruktursektor. Wir haben dieses Erbe um die Nutzung von Cloud- und offenen Anwendungen erweitert und so unsere Relevanz für wichtige Programmanforderungen gesteigert. Das macht uns einzigartig und zu einem „vertrauenswürdigen Berater“, wie man so schön auf Deutsch sagt.

Gibt es ein spezielles Portfolio von Projekten, die Bentley Systems im Hinblick auf künstliche Intelligenz durchführt?
Ja, das gibt es. Wir haben einige Leuchtturmprojekte im Bereich KI. Damit verknüpft haben wir einige Grundprinzipien. Wir sehen, dass es in den Organisationen keinen Mangel an Fähigkeiten im Bereich des maschinelles Lernen gibt. Unser Grundsatz ist daher Vertrauen und Datenintegrität. Damit können Sie dem Quellcode, der Softwareentwicklung und allen am Code vorgenommenen Anpassungen vertrauen. Damit verbunden ist auch, dass Sie den Ergebnissen vertrauen können, weil die von der KI verwendeten Daten validiert und geeignet strukturiert sind. Das bedeutet, dass Sie viel schneller eine qualitativ bessere Antwort erhalten als einfach nur eine viel schnellere Antwort – es geht darum, der Qualität zu vertrauen, und nicht darum, sich auf mehr Geschwindigkeit zu verlassen. Bentley ist im Geschäft der qualitativ hochwertigen Entscheidungsfindung, mit besser durchdachten und getesteten Analysen. Das ist die Grundlage unseres Ansatzes: Wir bieten eine sehr kontrollierte Analyseumgebung, in der wir maschinelles Lernen auf transparente Weise nutzen können. Wir sind davon überzeugt, dass dieser Ansatz und unser Portfolio einen Unterschied machen, indem sie Vertrauen, Ordnung und Qualität in die Lebenszyklen wichtiger Infrastrukturprojekte bringen.

Was halten Sie von dem Begriff „Intelligence-as-a-Service“? Ich denke, Bentley Systems ist in der Lage, Dienstleistungen anzubieten, um mithilfe der Datenkontextualisierung seinen Kunden Wissensleiter nach North weiter nach oben zu verhelfen.
Wenn Sie unseren KI-Ansatz wählen, der auf gut strukturierten, qualitativ hochwertigen Daten basiert und einen schnelleren Zugriff auf qualifizierte Antworten bietet, bewegen Sie sich von der reinen Datenablage über die Datenanalyse hin zu höherwertigen, ultraschnell erstellten Optioneering-Präsentationen auf Basis valider Berechnungsmodelle. Damit wandelt sich Bentley Systems automatisch in Richtung einer Art „Insight-as-a-Service-Unternehmen“. Das ist mehr als nur eine natürliche Entwicklung, es ist ein bewusst gewählter Schritt unsererseits. Ich vermute, wenn wir unsere gute Arbeit im Bereich KI fortsetzen, werden wir zu einem bevorzugten Marktführer, weil wir über die richtigen KI- und Datengrundlagen verfügen.

Sie könnten die Gelegenheit nutzen, sich von einem reinen Softwareanbieter zu einem „Partner“ mit einem integrierten Angebot zu wandeln, um Ihren Kunden durch eine enge Zusammenarbeit auf Basis von Cloud Computing eine bessere Konnektivität und mehr Einblicke zu bieten. Liege ich da richtig?
Durchaus. Wir sehen insbesondere bei Megaprogrammen, die über zehn Jahre und mehr laufen und 10 Milliarden und mehr Kapital binden, dass globale Programmökosysteme komplex und mehrstufig sind und eine inhärente Fragilität aufweisen. Traditionell konkurrieren zwei oder drei globale Ingenieurbüros um Verträge oder aber sie arbeiten bei diesen Programmen zusammen. Dieses konzertierte Arbeiten für ein Megaprogramm über seine gesamte Laufzeit ist auch erforderlich – damit verbunden ist ein tief integriertes Partnerökosystem, das Ende-zu-Ende gedacht, sicher, KI-gestützt und datengesteuert unterstützt wird und die Menschen in die Lage versetzt, die bestmöglichen, wertschöpfendsten Entscheidungen zu treffen. Wir sind als Marktführer für digitale Lösungen in großen, komplexen Infrastrukturprogrammen und im Anlagenbetrieb perfekt dafür positioniert.

Um unser Gespräch abzuschließen: Was sind die Erfolgsfaktoren für die termingerechte und budgetgerechte Durchführung eines Megaprojekts?
Auf höchster Ebene müssen Sie eine Unternehmens- beziehungsweise Geschäftsmentalität anstelle einer reinen Projektmentalität etablieren. Dabei gilt: Groß und integriert denken! Das bedeutet: Wir machen Geschäfte zusammen, also müssen wir einige Wettbewerbsaktivitäten auf Eis legen, um gemeinsam ein Programmergebnis zu erzielen. Man wird zusammengeschweißt zu einem Team mit gemeinsamen Zielen, das über viele Jahre und über mehrere Ökosysteme, ja Kulturzonen hinweg wirkt. Wie ich bereits erwähnt habe, müssen wir uns auf die Resilienz in der Lieferkette konzentrieren, um die zusätzlichen Risiken rund um den Globus beherrschen zu können. Beispielsweise kann der Stahl aus einem anderen Teil der Welt kommen als dem, an dem sich die Baustelle befindet. Und wenn ich große Mengen davon kaufe, könnten sich volatile Rohstoffpreise empfindlich darauf auswirken. Wie schaffe ich es also, Fähigkeiten und Materialien über einen Zeitraum von mehr als 520 Wochen zu bündeln? Es ist ein Business über einen sehr, sehr langen Zeitraum! Ich kann mir vielleicht eine Vorstellung über die Auswirkung von Technologietrends der nächsten fünf Jahre machen – aber keine über die, die in zehn Jahren relevant sein werden. Langfristig zu planen und dennoch bereit sein für taktische Entscheidungen, scheint mir ein sehr valider Ansatz zu sein.

Eindringlich und überzeugend. Haben Sie ein Projekt, das Ihnen ganz besonders am Herzen lag?
Ja und ich habe eine persönliche Verbindung dazu aufgebaut. Ich denke, Sie kennen das Oystercard-System für den öffentlichen Nahverkehr in London. Ich hatte das große Glück, Programmdirektor des Äquivalents in Manchester zu sein – einem digitalen, integrierten Ticketsystem. Die zugrunde liegende Zusammenführung von Daten, Technologien und Prozessen über eine globale Lieferkette und ein komplexes multimodales Netzwerk hinweg war faszinierend und stressig zugleich – ich bekam damals viele graue Haare. Wir mussten eine Lieferkette bis nach China managen und auf Waren aus Lateinamerika warten (insbesondere Maschinen wie Scanner). All dies führte dazu, dass Manchesters öffentliches Verkehrssystem für die Bürger deutlich attraktiver wurde. Es wird nun von mehr Menschen als zuvor genutzt, sodass die Ticketpreise gesenkt werden konnten. Die positiven Auswirkungen auf die Region machen mich sehr stolz, ebenso wie die Tatsache, dass Staus und Emissionen abnahmen und viele Menschen nun ihren Weg zur Arbeit stressfrei bewältigen können. Deshalb liebe ich Infrastrukturprojekte!

Vielen Dank für die Stellungnahme!
Fragen: Bernhard D. Valnion

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