Digitaler Klimawandel und geführte Gipfeltouren

Digitaler Klimawandel und geführte GipfeltourenIn der Vergangenheit versuchte die Industrie, durch den extensiven Einsatz von IT ihre Prozesse zu optimieren. Dabei haben sich IT-Gebilde aufgetürmt, die nur noch schwer zu beherrschen sind. Lässt sich eine Bresche in diese Ungetümer schlagen, um einen Weg hin zur viel beschworene Digitalen Transformation zu ebnen? Dominik Rüchardt, Produktstratege bei PTC, über IT-Endmoränen, prozesstechnisches Tauwetter und verheißungsvolle Pfade in ein neues Wirtschaftswunder – und warum „Soft“ von Software nicht als beliebig verformbar verstanden werden sollte.

Dominik, wie konnte sich eine derart ausufernde IT-Landschaft in den Unternehmen ausbreiten?
Um die Jahrtausendwende machte das Motto die Runde: „IT follows Process“ – die Gestaltung von durchgängigen Abläufen stand im Vordergrund. Es wurde sehr viel Aufwand betrieben, um die Prozesse so weit wie möglich zu optimieren. Schau Dir nur die enorme Effizienz an, mit der heute Fahrzeuge entwickelt und gefertigt werden – das ist schon sehr beeindruckend.

Ist doch alles gut! Wo ist der Haken?
Nun ja, es haben sich sehr hohe IT-Gebilde aufgetürmt, so dass ich gerne in diesem Zusammenhang von digitalen Endmoränen spreche.
In den 1990er Jahren sind die Prozesse noch frei geflossen. Es wurde CAD als Arbeitsplatzlösung eingeführt, Einzelmodelle wurden simuliert und jeder konnte für sich entscheiden, was er wie und wann tut. Dann kamen die 0er Jahre und der Prozess rückte in den Vordergrund. Die unterstützende IT ließ die Prozesse zu einem riesigen Gletscher einfrieren. Und das große IT-Gebilde, die Endmoräne, die dabei entstand, hielt den Gletscher von Anwendungen und Prozessen zusammen.

Deine bildhafte Sprache fasziniert, könnte dem Arabischen entstammen 😉 Aber Gletscher sind vergänglich, wie uns die gegenwärtige Klimaerwärmung lehrt…
…völlig richtig. Seit ungefähr dem Jahr 2013 hat im Zuge der Diskussionen um Industrie 4.0 eine Art digitaler Klimawandel eingesetzt. Plötzlich wollte man anders sein als zuvor – nenne es, wie Du willst: agil, multidisziplinär, vernetzt. Und damit haben sich die Anforderungen an die Prozesse radikal geändert. Diese Art von Klimaerwärmung lässt die Gletscher kleiner werden, aber die digitale Endmoräne, sprich die IT, steht weiterhin in der Landschaft. Tatsächlich stellt sie ein erhebliches Problem für die Unternehmen dar, denn würde man sie einfach so abtragen werden, könnte ein Tsunami entstehen und alles hinweg fegen. Also lässt man sie lieber stehen…

…obwohl die Endmoräne nicht mehr zeitgemäß erscheint. Was tun?
Man muss in jedem Fall akzeptieren, dass die Endmoräne da ist. Es hilft ja nichts. Man sollte nicht der Illusion verfallen, die alten Gebilde schnell abtragen zu können, schließlich sind sie Ausdruck des Selbstverständnisses der Unternehmen. Um sie herum müssen nun neue IT-Architekturen entstehen, die den neuen Herausforderungen Rechnung tragen.

Wie passen da Systemhersteller übergreifende Initiativen ins Bild, zum Beispiel unterstützt vom Codex of PLM Openness (CPO) des Prostep iViP Vereins?
Du hast recht, man braucht Instrumente, um die IT-Gebilde beherrschbar zu machen. Dieser Codex hat ja inzwischen politische Bedeutung und den Ritterschlag vom Bundeswirtschaftsministerium erhalten. Langsam versucht man, Stück für Stück, das große Durcheinander aufzuräumen. Und der CPO ist da durchaus hilfreich.
Ich kann nur eine Änderung der Verhaltensweisen empfehlen. Software ist nämlich inzwischen zu einem strategischen Thema für die Unternehmen geworden. Damit verschiebt sich die Bedeutung der Softwarelieferanten für die Unternehmen. Denn diese gestalten ein Stück weit die Produktarchitekturen mit. Vor fünf bis zehn Jahren standen wir in einem gewöhnlichen Lieferanten-/Dienstleistungsverhältnis mit unseren Kunden. Doch hat sich unsere Bedeutung gewandelt. Wir sollten nun durchaus in eine kontroverse, ja kritische Diskussion mit ihnen treten, zum Beispiel dann, wenn sie Änderungswünsche anmelden – unsere verschiedenen Interessenlagen sollten zur Übereinstimmung gebracht werden.

Du willst also Streit vom Zaun brechen, im Dienste eines Application Lifecycle Managements, so wie es PTC das Wort redet?
Wir wissen, wie Software-Systeme konzipiert sein müssen, um sie effizient betreiben zu können. Hierzu sind viele methodische beziehungsweise konzeptionelle Entscheidungen notwendig, wenn es beispielsweise darum geht, Varianten, Änderungs- oder Anforderungsprozesse abzubilden. Dabei kommt man schnell in eine große Anzahl von Möglichkeiten, wie sich Daten strukturieren lassen.
Eine derartige Gliederung muss standardisiert eingeführt werden, was den Organisationen zunächst nicht passt. Oder lass es mich so ausdrücken: Wir von PTC bauen nur eckige und nicht runde Türen, weil eben nur die erst genannte Form in ein Standard-Konzept passt.

Aber: Wer bezahlt, schafft an. Wie viel Durchsetzungskraft hat so ein Software-Systemanbieter wirklich?
Eine ganze Menge. Ich habe derartige engagierte Diskussionen in der Vergangenheit mehrfach geführt. Klar, am Anfang blickte ich stets in entsetzte Augen. Doch dann verstanden meine Gesprächspartner schnell, in welchen Genuss von Vorteilen sie dabei kommen werden, wenn sie sich darauf einlassen. Und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zum Beispiel allein durch den Erkenntnisgewinn, wie man eine bestimmte Aufgabenstellung noch lösen kann. Sie lernen, in Alternativen zu denken, weil wir als Software-Hersteller ja durchaus mitbekommen, was es an Möglichkeiten für eine Problemlösung gibt. Zum anderen auch deswegen, weil die Organisationen selbst ihre leidvollen Erfahrungen gemacht haben, wenn sie nur ein Konzept aus eigener Sicht umsetzten.
Auch sollte man einen ganz banalen Grund nicht außer acht lassen: Sie erhalten durch die Diskussionen mit uns ein gewisses Herrschaftswissen, das sie intern nutzen können. Sie erfahren nämlich, wie ein Softwareunternehmen funktioniert.

Wenn ich Dich richtig verstehe, ist es wichtig für die Kunden, zu lernen, wie ein Software-Unternehmen funktioniert.
Definitiv. Ein Software-Hersteller funktioniert eben ganz anders als ein Fertigungsbetrieb. Es werden Produkte angeboten, die auf den ersten Blick als sehr formbar erscheinen, eben so, wie die Silbe „Soft“ suggeriert. In Wirklichkeit jedoch ist Software so nachhaltig wie kaum etwas anderes, denn darin sind unsere Gewohnheiten abgebildet – das muss man erst einmal begreifen. Software durchdringt Prozesse, Konzepte und Architekturen, die sehr schwer zu ändern sind.
Außerdem: Ein Software-Hersteller verkauft seine Software an viele Kunden mit individuellen Bedürfnissen – bedenke, die Notwendigkeit der Anpassung hält sich bei Hardware in Grenzen. Außerdem ist davon auszugehen, dass sich Software auch weiterhin verändert. Sie muss permanent gepflegt und weiterentwickelt werden. Das sind grundlegende Eigenschaften, die das Geschäft eines Softwareherstellers charakterisieren. Dies zu begreifen beinhaltet einen Erkenntnisprozess, der nicht von alleine kommt.

Was macht die Alleinstellung von PTC im Kontext des zuvor gesagten aus? Was macht Euch anders als die anderen?
PTC ist mit seiner vernetzten IoT-Systemarchitektur besonders weit, moderne Architekturkonzepte umzusetzen – das Stichwort dafür ist schon gefallen: Digitaler Klimawandel.
Wir haben als Späteinsteiger in das PLM-Geschäft eine Situation vorgefunden, in der die Vorstellungen über PLM von anderen Playern bereits vorgegeben waren. Wir waren also immer gezwungen, unser Verhalten so auszurichten, dass wir nicht auf der grünen Wiese arbeiten konnten. Wir mussten mit digitalen Endmoränen immer schon umgehen. Diese Flexibilität zeichnet unsere Technologie aus. Das gereicht uns zum Vorteil, weil wir dadurch deutlich agiler und flexibler sind. Unsere Schnittstellen lassen sich besser in eine künftige Architekturwelt einfügen.

Hat sich an der Systemarchitektur von Windchill etwas geändert? Etwa deswegen, weil die ThingWorx-Produkte hinzu kamen?
Die Windchill-Architektur war immer schon zu 100 Prozent webbasiert, so dass wir keine diversen Client-Systeme managen müssen. Durch die Einhaltung von Web-Standards wurden uns Arbeiten abgenommen. ThingWorx bildet aber zusätzlich einen hoch attraktiven Integrationslayer. Damit können wir nicht nur Dinge vernetzen, sondern auch Systeme und Prozesse – und all das in jeder Kombination. Das haben auch unsere Kunden erkannt. Wir haben daher mit „Navigate“ ein standardisiertes, flexibles Integrationskonzept auf Basis ThingWorkx geschaffen, das sehr gut ankommt.

Wie lassen sich die wertvollen Rohstoffe in der Endmoräne, sprich Daten, für zukünftige Einsatzzwecke nutzen?
Zunächst sollte man die Daten belassen, wo sie sind. Wenn man nun rund um die Moräne neue Architekturen aufbaut, muss sehr genau darauf geachtet werden, dass einzelne Stücke davon mit Sollbruchstellen versehen werden. So ist man in der Lage, über ein Baukastenprinzip sich immer weiter zu entwickeln, ohne von Altlasten blockiert zu werden.
Die Erosion findet ja eh statt, indem sich die Schwerpunkte in den Anwendungen verlagern. Wichtig ist in jedem Fall, dass sich die Unternehmen vom Prinzip verabschieden, „IT follows Process“. Dies muss ersetzt werden durch ein „IT und Prozess bilden gemeinsam ein Architektur-Konzept“.

Mit anderen Worten, IT-Unterstützung muss insgesamt neu gedacht werden.
Genau – darum geht es! Übrigens haben wir dazu ein sogenanntes Journey-Prinzip ins Leben gerufen. Es ist ein Handlungsrahmen mit verknüpfbaren Modulen, sowohl in technischer also in planerischer und kommunikativer Hinsicht, um eine eigene Reiseroute für eine neue IT-Systemarchitektur festzulegen. Zum Beispiel gibt es eine Journey „Digital Engineering“, bei der es um den Themenkomplex „digitale Produktentwicklung“ geht. Dabei wird mit ganz modernen, agilen Methoden gearbeitet. Eine andere Journey bezieht sich auf „Digital Manufacturing“. Somit lassen sich die Welt der Entwicklung und Produktion komplett neu zusammenführen…

…was in der Tat, sehr verlockend klingt…
…damit nicht genug, für die Konzipierung eines kombinierten Produkt- und Service-Geschäft eignet sich unsere Journey „Digital Service“. Dies umfasst die lebenslange Begleitung von Produkten durch Dienstleistungen, etwa in Form von Predictive-Monitoring-Anwendungen. Diese Journeys verstehen sich als ein modular aufgebautes Handbuch, mit dessen Hilfe sich ein Unternehmen Stück für Stück weiter entwickeln kann. Meines Erachtens nach ist dies ein schönes Beispiel, wie man bei einer immer komplexer werdenden IT zu einer beherrschbaren Vorgehensweise kommt.

Dominik, lass gut sein. Vielen Dank fürs Gespräch!
BDV

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