Intensives Engagement bei Menschmodellierung für mehr Car Safety

Um den Wandel hin zu assistierten und automatisierten Fahrtechnologien in Hinsicht auf die Sicherheit widerzuspiegeln, will Euro NCAP seine Bewertungsregeln, die seit 2009 in Kraft sind, anpassen. Im Zuge dessen sollen virtuelle Tests eingeführt und neben Dummys auch Menschmodelle zur Analyse von Verletzungsgefahren zugelassen werden. In diesem Spannungsfeld gab die Konferenz „Human Modeling and Simulation in Automotive Engineering“ wichtige inhaltliche Impulse über künftige Innovationen beim Schutz von Insassen, Fußgängern und Fahrradfahrern.

MARBURG, im Dezember 2024 (bv). Auf einer im Frühjahr 1978 vom VDI (Verein Deutscher Ingenieure) organisierten Tagung wurden die Ergebnisse einer Simulation des zufälligen Absturzes eines Kampfflugzeugs in ein Atomkraftwerk präsentiert. Dieser ingenieurtechnische Kunstgriff machte deutsche Automobilhersteller auf die Möglichkeit aufmerksam, sich die Methoden der Crash-Simulation zu Nutze zu machen. Dann im Herbst 1985 wurde auf einem User Meeting des Supercomputerherstellers Cray in Montreal der Vergleich zwischen der Simulation des Frontalcrashs eines VW Polo mit Fotoaufnahmen eines physischen Crashtest aus dem Jahr zuvor vorgestellt. Kurz darauf wurden bei Peugeot die ersten Menschmodelle in virtuellen Crashs genutzt.
Auch die Diskussion von Ergebnissen zu Human Body Modeling (HBM), wie es im Fachjargon heißt, kann auf eine lange Tradition zurückblicken. So fand bereits zum zehnten Male das Symposium „Human Modeling and Simulation in Automotive Engineering“ statt. Die zweitägige Veranstaltung wird seit 2007 im zweijährigen Turnus von der carhs training GmbH aus Alzenau veranstaltet. Das Besondere daran ist der klare Fokus auf die Automobilindustrie, denn es gibt viele Anwendungsgebiete für die Menschmodellierung. So ging es auch in diesem Jahr bei diesem Symposium insbesondere um die Analyse von Verletzungsgefahren im Falle von Fahrzeugunfällen.
Seit der ersten Veranstaltung findet die inhaltliche Abstimmung mit der Wayne State College of Engineering aus Detroit, US-Bundesstaat Michigan, statt. Tatsächlich war die Wayne State University die erste Einrichtung, an der mit der wissenschaftlichen Datensammlung über Auswirkungen von Autounfällen auf den menschlichen Körper begonnen wurde. „Ziel ist es, Forscher und Entwickler von Menschmodellen an einen Tisch zu bringen“, sagte Konferenzmanager Dirk Ulrich von carhs training in seiner Auftaktrede zur diesjährigen Veranstaltung. Insgesamt wurden 39 wissenschaftlich fundierte Präsentationen in sieben aufeinanderfolgenden Tracks geboten. Als Sponsoren traten BETA CAE Systems, Applus+ IDIADA, DYNAmore, Elemance, GNS und Oasys auf. Die Konferenzsprache war englisch.

Keynote: Menschmodelle müssen Teil des Kalküls sein

Michiel van Ratingen, Euro NCAP: „Maximierung der Sicherheit – Warum menschliche Modelle Teil der Gleichung sein müssen“
Den inhaltlichen Apéro gab Michiel van Ratingen, Generalsekretär der Euro NCAP. Die Organisation, in der europäische Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsverbände vertreten sind, hat ihren Sitz im belgischen Leuven und macht sich unter anderem für die Einführung robuster Sicherheitstechnologien fürs assistiertes und automatisiertes Fahren stark. Hierzu gehört die Optimierung von Testszenarien zur Aufrechterhalung der Funktionalität bei schlechten Wetterbedingungen und proaktiven Bereitstellung von Informationen für effektive Notfallmaßnahmen (etwa im Falle eines Crashes von BEVs) für First Responder oder Feuerwehren.
Auf politisches Interesse, so Michiel van Ratingen, stößt die Verbesserung des Unfallschutzes für Erwachsene und Kinder mit stärkerem Fokus auf die Bevölkerungsvielfalt im Sinne von mehr Gleichberechtigung. Es solle gelten: Sicherheit für alle – ganz gleich welchen Geschlechts, Alter, Statur, Gewicht, Korpulenz von Erwachsenen und Kindern – in allen Sitzpositionen. „Dazu müssen unsere Testmethoden angepasst werden“, sagte er und brachte Virtual Testing ins Spiel, um die gesamte System-Performance besser evaluieren zu können. Virtual Testing erlaube es, so der Generalsekretär, HBMs zu verwenden. Bei Untersuchungen zur System Performance könne eine höhere Robustheit erzielt werden, indem zusätzliche Lastfälle berücksichtigt werden würden – also nicht nur Crashs bei einem Einfallswinkel von sagen wir: 90° (Seitencrash, Far Side Sled (eg.)), sondern auch bei 95° oder 100°.
Auch wenn sich derzeit fast alle Blicke auf HBMs zu richten scheinen, sollte nicht verschwiegen werden, was alles bisher mit Anthropomorphic Test Devices (ATDs, anthropomorphe Testgeräte, besser bekannt als Crashtest-Dummys) zur Messung des menschlichen Verletzungspotenzials bei Fahrzeugunfällen, erreicht wurde. Hinzu kommen virtuelle Abbilder der ATDs.
Dies würdigte Michiel van Ratingen, ließ aber auch nicht unerwähnt, dass die Kosten für die Weiterentwicklung von ATDs hoch seien und Geduld für die dafür notwendige Zeit erforderlich sei. Die Entwicklung von THOR begann 1982 bei der US-amerikanischen NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) im Rahmen eines Forschungsvertrags mit dem Highway Safety Research Institute der University of Michigan (4). Der THOR-Dummy stellt das derzeit fortschrittlichste Dummy-Modell für den Frontalaufpralltest dar. Er verfügt gegenüber dem bisherigen Standard-Frontalaufprall-Dummy (Hybrid III 50%-Mann) über eine verbesserte Biofidelität, das heißt die Wiedergabe des menschlichen Körperverhaltens, sowie über eine erweiterte Instrumentierung, um die relevanten Parameter, in Bezug auf Verletzungen und Verletzungsmechanismen besser bestimmen zu können.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass Euro NCAP voll auf ATDs setzte: Im Jahr 2020 hat Euro NCAP noch vorgeschlagen, den männlichen 50-Prozent-THOR-Dummy in einigen seiner Tests für Sicherheitsbewertungen zu verwenden. Aber, die Zeiten haben sich geändert, und Michiel van Ratingen wies darauf hin, dass die angestrebten kürzeren Entwicklungszyklen bei Fahrzeugen nicht mit denen von ATDs zusammenpassten: „Dummy sind zwar sehr nützlich, aber sie sind auch sehr inflexibel.“
Doch auch bei HBMs ist nicht alles Gold, was glänzt. Denn das Problem sei, dass diese für den produktiven Einsatz für Crashszenarien noch nicht standardisiert seien. Es seien eher Werkzeuge für Experten, nicht für den typischen Entwicklungsingenieur. Obwohl die Ergebnisse sehr vielversprechend seien, gelte es, noch viele Hürden im Kontext von den Aktivitäten des Euro NCAP zu nehmen. „Nutzen Sie HBMs, um tiefere Einblicke in ihre Arbeit zu erhalten, aber legen Sie nicht den Fokus darauf, ATDs zu ersetzen“, empfahl der Generalsekretär. Wenn man so will, machte er sich für die friedliche Koexistenz beider Replica-Formen des Menschen stark.

Es folgt ein Auszug an Berichten, die auf dem Symposium gehalten wurden.

Track: Biomechanik

Cynthia Bir und Cameron Bass, Wayne State University: „Ungedämpfte Belastungen – Weichteile und Validierung in menschlichen Körpermodellen“
Professor Cynthia Bir trat in der Rolle der Experimentalwissenschaftlerin auf und wies darauf hin, dass es zwischen Experiment und numerischer Modellierung gegenseitige Abhängigkeiten gebe. Sie betonte, dass die Auswahl an Testmethoden auf Gewebeebene groß sei, etwa um Spannungs-Dehnungskurven und Elastizitätsmoduls, Poissonzahl oder viskoelastische Koeffizienten zu bestimmen. Dies verlange sehr viel Fingerspitzengefühl.
Professor Cameron Bass diskutierte im Anschluss die Modellierung von Gewebeeigenschaften am Beispiel des Gehirns, das unter verschiedene Belastungen sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweist: nichtlinear bei volumetrischer Belastung und Scherbelastung; auch viskoelastisch, anisotrop oder inhomogen; nahezu inkompressibel; nachweisbarer Poynting-Effekt; Spannungsdruck-Asymmetrie und stark temperaturabhängig. Dies spiegelt sich in einer sehr großen Anzahl von Modellen wider, die für spezifische Anwendungsfälle ihre Berechtigung haben. Dabei müsse stets geklärt werden, für welche Auflösung die Modelle stehen.
Zum Beispiel wird die Lagrangesche Finite-Element-Methode mit 100 000 und mehr Hexaederelementen bei einer mittleren Auflösung von 2,5 mm zur Verletzungsvorhersage genutzt. „Das Problem ist natürlich, dass in dem Moment, in dem die Auflösung erhöht wird, sich die Rechenzeit signifikant verlängert, gerade wenn es um die Abbildung von Scherphänomenen geht. Da fast alle Verformungen im Schermodus erfolgen, daher müssen wir diese Phänomene richtig wiedergeben!“, sagte Cameron Bass mit Nachdruck. „Scherschocks“ im Gehirn können ab einer bestimmten Intensität die Ursache für leichte bis schwere Neurotraumata sein.
An der Wayne State University wurde ein komplexer, auf Finite-Volumenelement-Methoden basierender Ansatz entwickelt, um Schockwellen im Gewebe zu reproduzieren. Damit gehe man deutlich über das hinaus, was derzeit Stand der Wissenschaft ist, so der Gelehrte. Es folgten tiefe Einblicke in die Komplexität biomechanischer Abläufe. Diese müssten sehr genau wiedergegeben werden, so Cameron Bass, um die Ergebnisse mit einer breiteren Expertenschicht als bisher teilen zu können.

Özgür Cebeci, IAT: „Parametrisierte statistische Form und Erscheinung – Modellierungsstrategie zur Vorhersage proximaler und diaphysärer Femurfrakturen“
Beim berüchtigten Oberschenkelbruch („distale Femurfraktur“) ist der Knochen im Bereich des Kniegelenks gebrochen. Das Thema hat insofern eine hohe Brisanz, da die Sterblichkeitsrate bei älteren Menschen im ersten Jahr nach dieser Art von Femurfraktur bei über 20 Prozent liegt. Das Ziel der von Özgür Cebeci vorgestellten Studie bestand darin, eine parametrische Modellierungsmethode zu entwickeln und zu evaluieren, die den Einfluss veränderter Anthropometrie und des Alters bei der Frakturvorhersage berücksichtigt.
Aus einem sogenannten Baseline-Femur-Modell wurde eine parametrische Abbildung erzeugt. Die dabei modellierten Oberschenkelknochen wurden in Hinsicht auf Dreipunktbiegung, axiale Torsion und seitliche Sturzbelastung untersucht. Die Ergebnisse wurden hinsichtlich der Korrelation mit Körpergröße, Body Mass Index (BMI) und Alter ausgewertet. Als ein Ergebnis der Untersuchung sagte Özgür Cebeci, dass parametrische Femurmodelle die aussagekräftige Untersuchung des Einflusses der Anthropometrie zu reduzierten Kosten ermöglichen.

Frank Meyer, Strasbourg University: „Erste Validierung und Knochenbruchreproduktion unter multidirektionalen Belastungen mit einem fortschrittlichen Hals-FEM“
Autonomes Fahren führt zu nicht üblichen Sitzpositionen der Insassen in einem Fahrzeug. Die ersten Untersuchungen von Frank Meyer zu dem Thema gehen aufs Jahr 2004 zurück. Damals wurde der Kopf und die Halswirbel lediglich mit Schalenelementen vernetzt und es gab noch keine Kopplung mit HBMs. Es folgte eine systematische Weiterentwicklung des Ansatzes bis zur Kopplung an das Toyota-HBM THUMS V4 im Jahr 2020. Es entstand das Modell UNISTRA-Head-Neck-2020. Es wurde dynamisch hinsichtlich der Kinematik des Kopfs in Situationen mit Aufprall von hinten, vorne, seitlich und schräg (sogenannte NBDL-Tests) validiert. Zwei Verletzungstypen wurden bei dem Ansatz im Besonderen untersucht: Schädelfraktur und diffuse Axonverletzung. Diffuse axonale Verletzung beschreibt ein pathophysiologisches Merkmal, das im Rahmen eines Schädelhirntraumas auftreten kann. Das Ziel war die Bestimmung der seitlichen Beugetoleranz des Kopf-Halswirbelsäulensystems bei anfänglich verdrehter Kopfhaltung unter Verwendung von Lasten an den Hinterhauptkondylen. Die Kalibrierung fand mittels eines Menschen statt, der mit 63 Jahren gestorben war. Das experimentelle Setup umfasste ein Motion-Capture-System mit sechs Kameras, mit dem die Kinematik bei 1 kHz gemessen wurde. Der Ansatz überzeugt, denn im Verletzungsfall sagt UNISTRA-Head-Neck-2020 die gleiche Art von Fraktur beim ersten Halswirbel C1 voraus, wie experimentell beobachtet.

Passive Menschmodelle

Xiaofan Wu, Huida Zhang, Yu Liu, China Automotive Engineering Research Institute: „Entwicklung und Validierung von AC-HUMs“
Ist das auf europäischen und nordamerikanischen Menschen basierende menschliche Körpermodell geeignet, um Chinesen darzustellen? Eine gute Frage, wie Xiaofan Wu deutlich machte, denn es gibt in der Tat Unterschiede in Geometrie und Anatomie zwischen Menschen aus dem Westen und Asien, die zu Unterschieden in Kinematik und Verletzungsreaktionen führen. So sind die Länge, Knochendicke und Querschnittsfläche des chinesischen Femurs (Oberschenkelknochen) kleiner als die des US-amerikanischen Femurs. Unter gleichen Belastungsbedingungen ist der lokale Hochspannungsbereich des chinesischen Femurs größer als der des US-amerikanischen, so Xiaofan Wu.
Es wurde ein immenser Aufwand betrieben, um die Unterschiede systematisch zu erfassen. Die Studie trug mehr als 40 000 Knochenquerschnittsmaße zusammen. Zur Bestimmung von Materialdaten wurden über 3 000 biomechanische Tests an menschlichem Gewebe durchgeführt. Es wurde eine HBM-Serie für Männer entwickelt, eine für Frauen soll im kommenden Jahr veröffentlicht werden. Diese Modelle werden im Rahmen einer Roadmap sukzessive bei virtuellen Tests zum Einsatz gebracht.

Akira Yamaoka et al., Toyota Motor Corporation: „Entwicklung eines 50.-Perzentil-Modells für den menschlichen Körper einer Frau: THUMS AF50 Version 7.1“
Das „Total Human Model for Safety“ (THUMS) ist ein HBM, das seit 2000 aktiv von Toyota Motor Corporation und Toyota Central R&D Labs entwickelt wird, sodass auch Modell-Updates und neue Versionen regelmäßig verfügbar sind. Die kommerzielle Version von THUMS kann in Deutschland bei DYNAmore erworben werden. Zusätzlich steht eine nicht-kommerzielle Version zur Verfügung, die allerdings der Nutzung von Universitäten und Forschungseinrichtungen vorbehalten bleibt. Es gibt ein sogenanntes 50. perzentiles, männliches Insassenmodell und ein 50. perzentiles, männliches Fußgängermodell (AM50). Die drei repräsentativen Körpergrößen (05F, 50M und 95M) werden häufig zur Beurteilung von Verletzungen sowohl bei ATDs als auch bei HBMs verwendet.
Laut Unfallforschung erlitten weibliche Insassen bei Fahrzeugkollisionen häufiger Verletzungen an Brust und unteren Gliedmaßen (insbesondere an den Knöcheln) als männliche. Akira Yamaoka betonte, dass daher Bedarf für ein „50F“-Modell besteht, um der geförderten Forschung zur Geschlechtergerechtigkeit beim Insassenschutz Rechnung zu tragen.
Die neue Version 7.1 des Insassenmodells THUMS AF50 wurde durch Skalierung aus AF05 entwickelt, jedoch mit einigen spezifischen Verbesserungen: Der Brustkorb wurde unter Berücksichtigung der Tatsache skaliert, dass dieser bei Frauen nicht so voluminös ist wie bei Männern. Auch die Modellierung der Fußknöchelbänder wurde überarbeitet, wobei die Ursprungs- und Ansatzpunkte korrigiert und fehlende Bänder hinzugefügt wurden. Die Modellvalidierungen in Fällen mit vorderer und seitlicher Thoraxbelastungen und im Fall einer Knöchelinversion zeigten, dass die vom Insassenmodell THUMS AF50 7.1 berechneten mechanischen Reaktionskurven innerhalb der PMHS-Testkorridore (Versuche an Leichen) liegen.

Aktive Menschmodelle

Niclas Trube et al., Fraunhofer EMI: „Künstliche Intelligenz zur Echtzeit-Verletzungsvorhersage – Entwicklung und Plausibilitätsbewertung eines aktiven Mensch-Körper-Modells für numerische Simulationen von Kollisionen zwischen Radfahrern und Fahrzeugen unter Verwendung realer Unfalldaten“
Zunächst einige Aspekte vorweg, die sogenannte „aktive“ menschliche Körpermodelle (AHBM) charakterisieren. AHBM berücksichtigen die Bewegung und Gelenksteifigkeit des menschlichen Bewegungsapparats über aktive „Muskelbalkenelemente“ in einer dynamischen FEM. In modernen HBMs werden nahezu alle menschlichen Muskelgruppen in Form von 1D-Fachbalkenementen modelliert, die jedes Gelenk miteinander verbinden. Während in der Vergangenheit viel Arbeit in die Verbesserung des aktiven und passiven Verhaltens dieses 1D-Muskelsystems gesteckt wurde, wurde das volumetrische Muskelsystem von THUMS auf Grundlage von Post-Mortem-Testdaten an menschlichen Probanden (PMHS) auf vereinfachte Weise modelliert. Der steifigkeitsverändernde Effekt der isometrischen Kontraktion indes wurde für das volumetrische Muskelsystem von Ganzkörpermodellen bisher kaum berücksichtigt.
Die Präsentation von Niclas Trube hatte daher zum Inhalt, ein vom Fraunhofer EMI entwickeltes AHBM auf das Studium von Fahrradunfällen mit Autos anzuwenden, um den stabilisierenden Einfluss von Muskeln bei lebenden Menschen wiederzugeben. Die Ergebnisse sollten Unfalldaten der GIDAS-Datenbank besser als bisher reproduzieren. GIDAS ist die deutsche Studie zur vertieften Verkehrsunfalldatenerhebung. Träger des Projekts sind die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und die Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V. (FAT).
Zum Hintergrund: Die Zahl der Fahrradunfälle ist in der EU seit 2010 nicht zurückgegangen und nimmt in Deutschland sogar zu. 53 Prozent der zwischen 2015 und 2017 tödlich verunglückten Fahrradfahrer ereigneten sich aufgrund von Kollisionen mit Pkws. 81 Prozent aller zwischen 2010 und 2019 in der EU bei Unfällen getöteten Fahrradfahrer sind männlich. Sie trugen keinen Helm. In der von Niclas Trube vorgestellten sehr fundierten Studie wurden die Ergebnisse des AHBM-Ansatzes mit einem PHBM-basierten (PHBM: Passive Human Body Model) verglichen. Hierzu wurde ein typisches Kollisionsszenario zwischen Fahrzeug und Fahrrad herangezogen.
„Die verwendeten Daten zu Frontalkollisionen zwischen Fahrzeug und Fahrradfahrer mit einer hohen Anzahl an Verletzungen zeigen, dass die Abmessungen der Fahrzeugfront ähnlich denen des Toyota Camry-Modells ist und Körpergröße und -gewicht der verletzten Radfahrer sich mit denen von THUMS V4.02 AM50 beschreiben lassen“, sagte Niclas Trube. Er stellte im Anschluss einen ganzen Katalog an Details zu den angewandten Methoden vor. So wurde ein ebenfalls vom Fraunhofer EMI entwickeltes Trekkingradmodell verwendet, das dem häufigsten Fahrradtyp in den gefilterten GIDAS-Daten entsprach.
THUMS wurde basierend auf einer durchschnittlichen Radfahrerhaltung positioniert. Die entsprechenden Daten wurden aus videodokumentierten Auto-Radfahrer-Kollisionen extrahiert wurde. Es wurde insofern leicht angepasst, um den Pedalpositionen, dem Lenker und dem Sattel des Fahrrad-FE-Modells zu entsprechen.
Niclas Trube präsentierte abschließend durchaus überraschende Ergebnisse: PHBM und AHBM schneiden in Bezug auf Kinematik, Kollisionspunkte und verletzungsverursachende Kontaktpaare durchaus gleich gut ab. Allerdings schneidet PHBM in Bezug auf die Verletzungsbewertung im Durchschnitt besser ab als AHBM. Der Vergleich zwischen Simulation und GIDAS-Daten ergab, dass die stabilisierende Wirkung der Muskelkontraktion während des Unfalls die Verletzungsvorhersage beeinflusst. In welcher Form, ließ der Sprecher allerdings offen.

Zweiter Konferenztag: Pre- und Postprocessing HBMs

Leyre Benito Cia, GNS mbH: „Hans meets the GNS software – Handling of Human Body Models with Generator4 and Animator4“
Wie bei dem Vortrag von Niclas Trube bereits ersichtlich, ist die Positionierung eines Menschmodells in einem Fahrzeug- oder Fahrradmodell eine herausfordernde Aufgabe. Unterstützung ist daher sehr willkommen. Leyre Benito Cia demonstrierte dies am Beispiel des HBM Hans, dem Preprozessor Generator4 und dem Postprozessor Animator4.
Hans ist ein HBM, das für verschiedene Anwendungen wie Ergonomie, Biomechanik, Komfort und mehr geeignet ist. Das Modell deckt strukturelle Aspekte ab und umfasst detaillierte Darstellungen des menschlichen Körpers, einschließlich seiner Anatomie, Physiologie und mechanischen Eigenschaften. Hans besticht durch die hohe Genauigkeit seiner Modellierung des Muskel-Skelett-Systems und ermöglicht daher realistische Modellkinematik und Biofidelität.
Hans kann mithilfe von Generator4 in einem Fahrersitz positioniert und der Sicherheitsgurt angelegt werden. Hierzu wird der Anwender durch einen Dialog in vier Schritten geführt, die seinen Arbeitsablauf ordnen und die gleichzeitige Positionierung mehrerer Dummies sowie von HBMs erlauben.
Mittels Animator4 kann im Anschluss ein Crash mit Hans ausgewertet werden. Hierzu gehören die Dokumentation von Kopfbeschleunigungskurven, Hirnschäden, Verletzungen der Brusthöhlen, Rippen, Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule. Hinzu kommen Untersuchungen der Bandscheiben sowie von Organschädigungen.

Jens Bauer, Arup: Vorhersage des Verletzungsrisikos von Flugzeuginsassen in der Notfallsitzposition unter Aufprallbelastung
Die US-Bundesluftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) verlangt für die Zertifizierung von Flugzeugsitzen zwei verschiedene Lastfälle (0° Pitch, 16g; 60° Pitch, 19g) mit ATDs, die mit Zweipunktgurten angeschnallt sind. Hierfür stellte Jens Bauer eine validierte Simulationsmethode für den Crash von zivilen Flugzeugen unter Verwendung von v-ATDs und HBMs gleichermaßen vor. Die Methode dient dazu, die Kinematik und Verletzungsrisiken von Flugzeuginsassen in einer Vielzahl von simulierten Aufprallszenarien zu untersuchen. Dabei wurde die Oasys LS-DYNA-Simulationsumgebung und der Ansys LS-DYNA Solver für den gesamten CAE-Workflow genutzt. Als Preprozessor für die Positionierung der Menschmodelle wurde Oasys PRIMER verwendet, wobei die Zielmarkierungen aus Testdaten des US-amerikanischen National Institute of Aviation Research (NIAR) extrahiert wurden.
Jens Bauer sagte abschließend, dass mit dieser Studie die erste Phase der Anwendung und Bewertung von v-ATDs und HBMs für Anwendungen in der Luft- und Raumfahrt durchgeführt wurde. Der Sprecher ging davon aus, dass die Studie zur breiteren Anwendung von HBMs in der Luftfahrtindustrie beitragen und die biomechanische Forschung zur Sicherheit von Flugzeuginsassen fördern wird. Die von NIAR bereitgestellten Testdaten für starre Sitze dienten als wertvolle Basisbewertung für die Validierung von Modellierungsmethoden.

Pablo Lozano, Applus IDIADA: Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Crashtests mit Heavy Quadricycles – Bewertung männlicher und weiblicher Körpermodelle
L7e-Fahrzeuge, auch Heavy Quadricycles (HQCs) genannt, sind Vierradfahrzeuge mit einer Fahrzeugmasse unter 450 kg (ohne Batterien) und einer Leistung von weniger als 15 kW. Das Ziel ist, L7e mit typischen Car-Safety-Features zu entwickeln. Die kleinen Fahrzeuge sind besonders geeignet für kleinere Städten oder solche mit engen Gassen.
Hierzu wurden bei Applus IDIADA Safety-Anforderungen entwickelt und diese nach Euro NCAP mit vier Sternen bewertet. „Wir haben uns allerdings gefragt, ob dieses Euro NCAP-Bewertungsverfahren ausreicht, den Unfallschutz für Erwachsene angemessen abzudecken“, motivierte Pablo Lozano seine Präsentation. Denn es wurde das Phänomen Abtauchen (unterhalb des Sicherheitsgurts auf der Sitzfläche durchrutschen) im Falle von AF50 beobachtet, was zu einem erhöhten Risiko einer Bauchverletzung führt. Weiteres Ergebnis: Erhöhtes Risiko einer Thoraxverletzung für weibliche Versuchspersonen, ebenfalls vermutlich durch die Abtauchbewegung hervorgerufen wird. Dieses „Submarining“ korreliert mit der Positionierung der Sicherheitsgurte.
Aktuelle Protokolle sind durch die ausschließliche Verwendung des Hybrid-III-Mann-Dummys begrenzt. Pablo Lozano schlug die Verwendungeiner größere Anzahl von Anthropometrien1 in der Evaluierung von Sicherheitsuntersuchungen vor. Schließlich gebe es erhebliche Unterschiede in den Verletzungsrisikoprofilen zwischen männlichen und weiblichen Probanden. Potenzielle Verbesserungen sind durch adaptive Rückhaltesysteme und die Integration des Sicherheitsgurts in die Sitzstruktur zu erwarten.

Marius Rees, BMW AG, Ludwig-Maximilians-Universität München: „Vergleich von Hardware- und virtuellen ATDs mit HBMs in einer generischen BMW Far Side Sled-Umgebung einschließlich einem Seitenairbag“
Zuerst rekapitulierte Marius Rees den Status der Präsentation auf dem vergangenen Symposium, der im Wesentlichen dem Inhalt seiner Dissertation entsprach. Der Vortrag lautete: „Wie wird die maximale seitliche Bewegung verschiedener HBMs durch eine Variation des Reibungskoeffizienten zwischen Schultergurt und HBM-Haut in einer Seitencrash-Umgebung beeinflusst“.
Jetzt ging es um die Frage, ob sich die gleichen Ergebnisse reproduzieren ließen, wenn man eine realistische Umgebung ins Szenario integrieren würde. Dabei handelt es sich um eine BMW-Limousinen-Umgebung mit Sitz. Der Versuchsaufbau wurde von einem Schlittenimpuls gemäß CNCAP-Far-Side-Protokoll auf 32 km/h beschleunigt. Dabei wurde die Integration von den drei HBMs THUMS v4.1-50P, -05P, 95P berücksichtigt.
Zu den Ergebnissen sagte Marius Rees, dass in einer kommerziellen Sitzumgebung die allgemeine Auslenkung aufgrund eines aktiven Kontakts mit der Mittelkonsole reduziert wird, sich aber eine Reibungsempfindlichkeit immer noch feststellen lässt, wenn auch in geringerem Ausmaß. Bei aktivem Seitenairbag weise die Belastung der Rippen bei ATDs eine ungünstigere Tendenz auf als bei HBMs.

King-Hay Yang Young Scientist Award

Rainer Hoffmann, einer der Geschäftsführer von carhs training, gab als Abschluss der Veranstaltung den Gewinner des King-Hay Yang Young Scientist Award bekannt: Marius Rees konnte die unabhängige Jury überzeugen, wurde daher zum diesjährigen Gewinner ausgelobt. „Diese Anerkennung ist für uns besonders bedeutsam, da wir das Privileg hatten, King-Hay Yang während seiner Zeit an der Wayne State University persönlich kennenzulernen. Seine Beiträge zur Biomechanik und seine Vision für Sicherheitsinnovationen haben ein bleibendes Erbe hinterlassen, das uns alle in diesem Bereich inspiriert“, hob Rainer Hoffmann hervor. Der renommierte Forscher King-Hay Yang lehrte Biomechanik und war Direktor des Bioengineering Center der Wayne State University. Er war 2023 gestorben.

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