MBSE und seine Nähe zum datengetriebenen Unternehmen

Kommt die deutsche Fertigungsindustrie aus der Krise? Warum nicht? In einer jüngst vorgestellten globalen Studie rechnen jedenfalls 75 Prozent der befragten Unternehmen in den nächsten drei Jahren mit einer Effizienzsteigerung von 20 Prozent. 80 Prozent der Befragten vertreten die Ansicht, dass dieser Erfolg empfindlich von der Einführung neuer Technologien abhängt. Daher sind sie mehrheitlich bereit, ihre Investitionen in neue Technologien um 20 Prozent oder mehr zu steigern1. Thomas Gessner, Business Development Manager bei der Zuken GmbH (Hallbergmoos), hat eine klare Vorstellung, welchen Lösungsweg es aus Sicht der Produktentstehung dafür gibt.

Thomas, Du hast Dich intensiv mit Model-based Systems Engineering beschäftigt. Was treibt Dich an?
Wenn ich Entscheidungen treffen muss, sei es nun in der Rolle des Produktmanagers, Einkäufers oder des Produktionsleiters, versuchen wir uns ein Bild über die aktuelle Datenlage zu verschaffen. Dies gelingt uns nur mit enormem Aufwand auf Basis von Momentaufnahmen. Da fällt Vieles unter den Tisch, was eigentlich für eine umfassende Entscheidungsfindung sehr wichtig wäre. Die gegenwärtig eingesetzten unternehmensweiten Backbone-Systeme bringen uns da nicht wirklich weiter.
Zur raschen Entscheidungsfindung benötigen wir eine neue Qualität an Datendurchgängigkeit, die obendrein der Dynamik unserer VUCA-Welt Rechnung trägt – ohne groß Aufwände bei der Datenverknüpfung betreiben zu müssen. Keines der derzeit im Markt befindlichen Systeme, sei es nun PLM-, ERP- oder andere unternehmensweite Systeme ist dafür ausgelegt, um beispielsweise rasch Antworten zu finden auf Bemerkungen wie: „Sie haben die Anforderung falsch verstanden, ich meine das anders“. Oder: „Die Entwicklungsabteilung ist der Ansicht, dass das ursprünglich ausgedachte Lösungsprinzip so nicht umsetzbar ist.“ Diese Dynamik in Hinsicht auf Kunden-, Markt- oder Entwicklungsbelange können diese Systeme nur schwerlich abbilden. Aber genau diese Flexibilität ist ja notwendig, weil man ja möglichst schnell die richtigen Entscheidungen treffen will.

Verstanden. Gibt es einen Nordstern, der den Ingenieuren in der Produktentstehung als Kompass dienen könnte?
Ich versuche die Antwort mit einem Beispiel zu geben. Nehmen wir einen Tier-1-Supplier. Dieses Unternehmen muss definieren, was das künftige Produkt können muss. Doch welche Backbone-IT sagt mir das? Die Antwort ist einfach: Es gibt kein System, das mir das sagt. Man könnte dem entgegnen, ein derartiges Orakel brauche ich gar nicht, weil mir der Kunden das sagt. Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn dieser Tier-1-Supplier hat eine ganze Reihe von Kunden, die an das zu entwickelnde System, sagen wir ein Lenksystem, ihre individuellen Forderungen stellen. Unser Tier-1-Supplier ist folglich mit multiplen Anforderungen seitens der OEMs konfrontiert. Ausgedrückt wird dies in schwerverständlichen PDFs, die jeweils viele hundert Seiten umfassen.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Kunden bei der Formulierung ihrer Wünsche ganz bewusst ein Hintertürchen offenhalten – um die eigene Verhandlungsposition nicht schwächen. Daher fällt es dem Tier-1-Supplier schwer, die Anforderungen der verschiedenen OEMs miteinander zu vergleichen. Dennoch müssen möglichst schnell Entscheidungen über das Systemlayout getroffen werden: Wo sind die Kommunalitäten? An welchen Stellen müssen Entwicklungsakzente gesetzt werden?
Klar zumindest ist, dass man da nicht auf Basis von Stücklisten oder anderen Dokumenten weiterkommt – nur die Verwendung von Funktionen schafft Abhilfe. Auf den Punkt gebracht: Der „Nordstern“ im Sinne Deiner Frage ist eine Funktionsstruktur, die mit Anforderungen verknüpft wird. Etwa, um Kernanforderungen auf Kernfunktionen zu abzubilden. Das scheint mir der einzig gangbare Weg zu sein.

Wenn ich Dich richtig verstehe, ist also die Lingua franca die Funktion. Aber die Funktion hat ja mindestens zwei Ausprägungen, eine ingenieurtechnische im Sinne von Wirkprinzipien und eine informationstechnische im Sinne der systematischen maschinellen Informationsverarbeitung. Am Ende des Tages muss ja stets einer Informationslogistik Genüge getan werden, also Daten und damit Informationen müssen maschinenlesbar weitergereicht werden können. Lassen sich diese zwei Seiten der (gleichen) Medaille zweifelsfrei in Deckung bringen?
Nein. Eine Produktfunktion ist etwas anderes als eine Funktion in der IT. Es gibt also auf der einen Seite eine Funktion, die in Verbindung mit den Anforderungen steht – dies kann natürlichsprachlich abgebildet werden. Des Weiteren gibt es Komponenten in Subsystemen, die zusammen genommen die Funktion erfüllen. Und es gibt es natürlich die abstrakte Funktionsbeschreibung in der Systemsimulation. Wenn Du so willst, steht die Funktion in der Mitte zwischen den Anforderungen und der technischen Umsetzung. Diese beinhaltet ihrerseits natürlich die unterschiedlichen Domänen wie E/E oder Software, die den multidimensionalen Lösungsraum aufspannen.

Welchen konkreten Weg schlägt nun Zuken vor?
Zunächst zur ersten Frage: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen gibt es einen klaren Bedarf von „außen“, seitens des Markts. Es muss eine dynamische Verbindung hergestellt werden zwischen den Anforderungen und den Funktionen, sodass der Anwender in der Lage ist, Was-wäre-wenn-Szenarien durchzuspielen, die zum Ausdruck bringen, was geschehen würde, wenn sich eine bestimmte Anforderung ändert. Oder aber was geschehen würde, wenn die Funktion modifiziert würde – wie sich dies auf die Anforderungen niederschlagen würde. Wir haben dies einmal „Connected Engineering“ genannt. Derartige Antworten lassen sich nur finden, wenn wir in der Mitte etwas haben, das ich als „Modell“ bezeichne. Dieses einfach einmal etwas Ausprobieren bekommt man mit den konventionellen Datenmanagementsystemen nicht hin.

Und was ist der „innere“ Grund?
Wir sagen, MBSE ist ganz allgemein betrachtet ein wichtiger Schritt in Richtung bessere Entscheidungsfindung in noch früheren Phasen der Produktentstehung und damit eine wichtige Investition in die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit.

Gibt es Best Practices, um ein Modell dingfest zu machen? Da kann man gewiss viele Fehler machen.
Ganz klar, ohne Führung geht die Modellbildung schief. Man braucht etwas, was dem Anwender eine Art Leitplanken für die Modellierung gibt. Wenn wir von Model-based Systems Engineering sprechen, sprechen wir über drei Themen: Software, also ein Modellierungswerkzeug, eine Modellierungssprache und eine Methode. Diese Aufteilung nutzen übrigens alle MBSE-Anbieter. Daraus entsteht eine geführte Art und Weise, die zu einem sachdienlichen Modellaufbau führt. Man muss irgendwo sinnvoll mit der Modellierung anfangen können und man muss irgendwo aufhören können – die letzte Beilagscheibe darf bei diesem Kalkül natürlich nicht berücksichtigt werden müssen. Neben einem sinnvollen Einstiegspunkt braucht es einen geeigneten Detaillierungsgrad bei der Modellierung. Ganz klar, Zuken hat eine Software, eine Sprache und eine Methode dafür. Und klar ist auch, dass wir das Beste dafür haben – Spaß beiseite.

Das macht mich neugierig. Erzähl doch mal: Was zeichnet Zuken bei MBSE aus?
Als Antwort nutze ich wiederum einen Anwendungsfall. Modelle lassen sich sehr gut im Bereich der Fertigung einsetzen. Die Durchmischung von Engineering-to-Order (ETO), Configure-to-Order und Produktmanagement lässt sich zum Beispiel hervorragend durch Modelle abbilden. Damit lässt sich sehr schnell verstehen, welche Elemente eines zukünftigen Auftrags konfigurierbar sind und welche ETO-Aufwände hinzukommen. Modelle helfen, diverse Lösungsszenarien durchzuspielen und zu analysieren. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, ob es sinnvoll ist, eine Komponente trotz höherer Kosten überzudimensionieren oder ob etwa eine Anpassung einer vorhandenen Konstruktion der richtige Weg ist […]

Die Frage kann ich mir nun nicht mehr verkneifen: Warum beschäftigt sich gerade Zuken so intensiv mit MBSE?
Im Zuge der Übernahme des US-amerikanischen MBSE-Spezialisten Vitech Corporation und der Gründung von Zuken Vitech im Jahr 2019 hat Zuken im März 2021 die GENESYS MBSE 2.0-Technologie von Vitech in sein Vertriebs- und Serviceportfolio aufgenommen. Wir sind also gut gerüstet.
Unser Wettbewerbsvorteil ergibt sich insbesondere dadurch, dass wir die Welt des abstrakten MBSE mit der des Detailed Engineering durchgängig verbinden können – von Requirement Management mit Tools wie Doors bis hin zu unseren Lösungen wie E3.series oder CR-8000 für die ECAD- beziehungsweise EDA-Modellierung […]

Das vollständige Interview steht hier zum Download bereit.

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