„Investitionen schützen, Innovationen beschleunigen“

Wie kann man neue, transformale Wege in der Entwicklung gehen und es gleichzeitig vermeiden, den Serienbetrieb zu gefährden? Vor allem unter Berücksichtigung kaufmännischer Gesichtspunkte ist es essenziell, bestehende Investitionen abzusichern und vorhandenes Know-how zu schützen. Die Cover Story der Ausgabe 1/2017 von d1g1tal AGENDA veröffentlich exklusiv ein Hintergrundgespräch mit Wolfgang Puntigam, dem Leiter der Integrated and Open Development Platform von AVL.

Dr. Puntigam, AVL hat im vergangenen Jahr viele wichtige Player in der Automobilindustrie mit den Lösungen aus seiner Integrated and Open Development Platform (IODP) überzeugen können. Was ist der Kern von IODP?

Ziel ist es, die bereits in der Organisation vorhandenen Modelle, Prüfeinrichtungen, Daten oder Prozesse intelligent miteinander zu verknüpfen und diese durchgängig wiederzuverwenden. Ein Schlüsselthema ist hier die Verbindung von Simulation und Test; also beispielsweise die Möglichkeit, Simulationsmodelle auf dem Prüfstand wiederzuverwenden und so die Voraussetzungen für die vollständige Virtualisierung im Entwicklungsprozess zu schaffen.

Was verstehen Sie unter Virtualisierung?

Es geht um die Erstellung von vollständigen funktionalen digitalen Prototypen des Fahrzeugs. Man spricht hier auch gerne vom digitalen funktionalen Zwilling. Dieser kann durch die Nutzung bestehender Einrichtungen entstehen.

Können Sie das genauer erläutern?

Die Funktionen im Fahrzeug werden viel stärker über Software bestimmt werden als früher, und der virtuelle Test wird in Zukunft noch weit mehr an Bedeutung gewinnen. Diese Entwicklungen müssen mit neuen, agilen Methoden weiter ausgebaut und institutionalisiert werden. In Zukunft wird zu jedem Fahrzeug ein kompletter digitaler funktionaler Zwilling vorliegen, also ein rein virtueller Fahrzeug-Prototyp, der die funktionalen Fahrzeugeigenschaften abbildet. Im Laufe der Entwicklung kann dieser digitale funktionale Zwilling als Modelllieferant dienen und umgekehrt mit Fortschritt der Entwicklung weiterentwickelt werden. Der Einsatz eines solchen digitalen funktionalen Zwillings kann bis hin zur In-use-Phase des Serienfahrzeugs reichen, weil Fahrverhalten und Fahrzeughistorie in diesem Verbund virtuell betrachtet werden können. Diese Erkenntnisse können wiederum in die Entwicklung von Neufahrzeugen einfließen. So wird der Kreislauf geschlossen und ein völlig neuartiger Zugang zur Fahrzeugentwicklung eröffnet.

Aus welchem Grund ist die Virtualisierung heute ein so wichtiges Thema? Das Schlagwort „Frontloading“ macht doch bereits seit vielen Jahren die Runde.

Schauen Sie sich zum Beispiel die Neuzugänge in der Branche an. Sie haben andere Wurzeln, zum Beispiel in der IT, und beschreiten daher auch neue Wege. Natürlich fehlt ihnen die lange Erfahrung und das Know-how, auf die bestehende OEMs verweisen können, aber sie haben keine bisher getätigten Investitionen zu berücksichtigen und können so ihren Prozess mit einer anderen Ausgangslage agiler gestalten. Für bestehende OEMs gilt es, diese Agilität zu nutzen, aber dabei ihr großes Erfahrungswissen und die vorhandene Infrastruktur zu bewahren. Dafür müssen unsere Kunden tiefer in die Digitalisierung beziehungsweise Virtualisierung einsteigen, die als Enabler für Frontloading fungieren. Jedoch hat ein OEM bereits eine sehr umfangreiche Tool-Infrastruktur im Einsatz. Es wurde eine Vielzahl von Investitionen getätigt, von der Entwicklung bis hin zur Fertigung, die es zu schützen gilt. Mit unserem Ansatz wird Bestehendes vernetzt und so eine weitaus größere Flexibilität und Offenheit für neue Methoden geschaffen. Indem wir bereits getätigte Investitionen intelligent mit unserem Angebot kombinieren, öffnen wir den Zugang zu einer intensiveren Virtualisierung, ohne dass die bisherige Tool-Landschaft zu Brachland wird. So kann der Kunde seine Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft sicherstellen.

Welche Vorteile bringt eine intensivere Virtualisierung im Fahrzeugentwicklungsprozess genau?

Lassen Sie mich hier ein Beispiel zitieren. Gemeinsam mit einem Kunden haben wir das Thema Thermomanagement bereits am Motorprüfstand untersucht. Um dies zu gewährleisten, wurden alle noch nicht vorhandenen Fahrzeugkomponenten, wie Getriebe, Chassis und so weiter, simuliert und mit dem Motor am Prüfstand verbunden. Dadurch konnte die Inbetriebnahme von Funktionen vom Fahrzeug bereits in eine weitaus frühere Phase vorgezogen werden. Auf diese Weise ließen sich sicherheitsrelevante Tests in einer abgesicherten Umgebung durchführen und Risiken deutlich reduzieren. Des Weiteren konnten freigaberelevante Entscheidungen vom Fahrzeug auf den Motorenprüfstand vorgelagert werden. Ein zusätzlicher Nutzen ergab sich durch die Reduktion von Rüstzeiten am Prüfstand durch Virtualisierung von Kühlungskomponenten. Auf den Punkt gebracht: Die Virtualisierung von realen Komponenten konnte nachweisbare kaufmännische Vorteile erwirken.

Das klingt vielversprechend. Finden Sie mit diesem Ansatz auch in den oberen Management-Etagen Gehör?

Ja. Unsere Lösungen helfen, eine höhere Agilität im Entwicklungsprozess zu erreichen. Agilität in dem Sinne, dass mit speziell angepassten virtuellen Prototypen viele kleinere Feedback-Loops durchführbar sind und so viel schneller fundierte Entscheidungen getroffen werden können. Wir können hier von einer Agile-Scrum-Methode sprechen, die angepasst aus der Softwareentwicklung übernommen werden kann. Gerade in Managementebenen sind dies Themen, die Gehör finden. Besonderes Vertrauen schafft natürlich auch die Vielzahl an erfolgreichen externen sowie AVL- internen Referenzprojekten, die nachweislich einen betriebswirtschaftlichen Nutzen erbracht haben.

Wie geht es nun mit der IODP weiter?

Wir haben sehr gutes Feedback vom Markt erhalten. Der Mehrwert, den wir erbringen, ergibt sich durch unser Verständnis über die Anwendung im Produktentstehungsprozess und über die Tools, die der Kunde verwendet. Darauf aufbauend gehen wir weiter in Richtung „Value Engineering“ – denn die Frage ist doch, welche Wertschätzung unser Angebot durch den Kunden nach der Inbetriebnahme der Plattform tatsächlich erfährt. Wir sind daher dazu übergegangen, unser Angebot mit einem Consulting-Ansatz aufzuwerten.

Wie kann man sich das vorstellen? AVL-Expertise aus der Cloud?

Nein. Uns geht es darum, herauszufinden, wie der Entwicklungsprozess beim Kunden gelebt wird – zum Beispiel, wie die einzelnen Aufgabenstellungen durchgeführt werden. Unser Leistungsversprechen beginnt folglich mit einer Ist-Analyse. Auf Basis dieser Erkenntnisse und unserer Technologien bieten wir dann konkrete Lösungen oder Apps an, die aufzeigen, wie der Kunde durch Vernetzung bestehender Elemente seine Aufgaben früher im Prozess und effektiver als bisher durchführen kann. Das Stichwort hierzu lautet „Engineering as a Business Case“: Mit unseren Vernetzungsplattformen können wir dazu beitragen, Engineering unter strengen kaufmännischen Gesichtspunkten zu betrachten. Bei der Einführung von transformalen Methoden ist es absolut notwendig, nicht nur bereits getätigte Investitionen und vorhandenes Know-how zu schützen, sondern auch die Zeitspanne von der Investition bis zur effizienten Nutzung in der Serienentwicklung zu minimieren. Neue Methoden und Tools werden sich nur dann durchsetzen, wenn sich deren betriebswirtschaftlicher Gewinn nachweisen lässt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: BERNHARD D. VALNION 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der Ausgabe 1/2017 von d1g1tal AGENDA, die soeben erschienen ist. Ein persönliches Exemplar können Sie hier anfordern. Oder Sie untersützen unser Arbeit mit einer kleinen Spende.

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