Das Tal der Tränen ist durchschritten

HOCKENHEIM, Ende September 2014 (bv). Zum sechsten Mal in Folge traf sich die Fertigungsbranche aus dem deutschsprachigen Raum, um sich über neue Technologien und Methoden der Produktivitätssteigerung auszutauschen. Dabei hat sich wieder einmal mehr das „Forum Effektive Fabrik“ als eine inhaltsreiche Kombination aus Fachvorträgen, praxisnahen Anwenderberichten und persönlichem Erfahrungsaustausch präsentiert. Professor Jürgen Kletti, geschäftsführender Gesellschafter des Veranstalters, der MPDV Mikrolab GmbH mit Sitz in Mosbach, wies in seiner Eröffnungsrede auf die Tatsache hin, dass in der Metallbranche spärliche zwei bis vier Prozent an Renditen erwirtschaftet werden. Gerade dort sei aber noch sehr viel Potenzial, das es zu heben gelte, um die Erträge zu erhöhen. Kletti wies zudem darauf hin, dass infolge der Aktivitäten rund um Industrie 4.0 inzwischen MES nicht nur große Aufmerksamkeit geschenkt würde, zunehmend auch in engem Zusammenhang mit PLM und ERP betrachtet werde.
Als weiterer Sprecher folgte Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker. Der Biologe, Umweltaktivist und SPD-Politiker thematisierte die Bedeutung von Ressourceneffizienz, einem wichtigen Faktor von Überlegungen zu MES. Von Weizsäcker sagte, dass die Menschheit im Wesentlichen mit zwei Problemen konfrontiert sei: mit knapper werdenden Ressourcen und mit einem Nachfrageschub, insbesondere in den aufstrebenden Staaten in Asien. Zwar seien Rohstoffen noch in ausreichenden Mengen vorhanden, jedoch könnten diese nur mit „viel Schmutz“ gewonnen werden. Der Gelehrte forderte, dass die wohlhabenden Gesellschaften dieser Erde zwei Drittel weniger Energie verbrauchen müssten. Auch bestehe Handlungsbedarf beim Recycling: Nach Erhebungen des Club of Rome werden nur ein Prozent aller Edelmetalle aus Abfällen wieder gewonnen und weiterverwendet.

Etappensiege

Es folgte Jochen Schumacher von MPDV Campus, einem eigenständigen Unternehmensbereich, der unabhängige Beratungsdienstleistungen rund um die Digitale Fabrik anbietet. Schuhmacher unternahm eine Wanderung hin zur perfekten Produktion. Sie bestand aus insgesamt sechs Abschnitten:

  1. Etappe ist die Status-quo-Analyse: Hierzu ist eine Wertstromanalyse empfehlenswert (KPI-Analyse). Das Projekt sollte intern den Mitarbeiter verständlich gemacht werden.
  2. Etappe: Verschlankung der Produktionsprozesse („Lean Production“). Allerdings, so warnte Schuhmacher, sei man damit noch längst nicht am Ziel.
  3. Etappe: Lean Production mit IT unterstützen. Hier kommt erstmals MES ins Spiel. Schuhmacher machte den interessanten Vergleich von Datenerfassung und -auswertung einmal ohne und einmal mit MES.
  4. Etappe: Schlanke Planungsabläufe („Lean Planning“), um Transparenz in der Fertigungsplanung zu erhalten. Die Auswirkung von Änderungen lassen sich unmittelbar erkennen.
  5. Etappe ermittelt prozessorientierte Kennzahlen. Sie seien für jedes Unternehmen individuell („Manufacturing Scorecards“), sagte Schuhmacher.
  6. Etappe ist eigentlich keine, sondern etwas, was man immer tun sollte: gelebtes Verbesserungswesen. Erst wenn auch diese Etappe erreicht ist, kann man den Einstieg in Industrie 4.0 wagen. Sonst werden nur weitere „Inseln“ in das Unternehmen getragen, warnte Schuhmacher. Und diese können zu Effizienzbrüchen führen.

Mehr Transparenz und Effizienz durch MES

Thomas Dinter, Geschäftsführer der Gerhardi-Gruppe, berichtete über die Einführung und Nutzung der MES-Lösung Hydra von MPDV. Seit mehr als zehn Jahren hat Gerhardi Kunststofftechnik an zwei Standorten das MES-System im Einsatz und entwickelt dieses kontinuierlich weiter. Was zunächst mit der einfachen Erfassung von Auftrags- und Maschinendaten begann, entwickelte sich über die Jahre zu einem integrierten System, das heute neben Produktion auch Personalzeiterfassung, Zutrittskontrolle, Werkzeugverwaltung und sogar Logistikkonzept umfasst.
Auf dem Weg zur effizienten Fertigung stellte das Unternehmen die Verteilung von Produktionsdokumenten auf die Anzeige am BDE-Terminal um und führte eine aussagekräftige Ausschussstatistik ein. Insgesamt nutzen rund 1.000 Fertigungsmitarbeiter knapp 170 Terminals, um Aufträge zu melden und Maschinen zu überwachen. Zudem unterstützen weniger als 100 lokale Drucker die Reduzierung des Papieraufkommens in der Fertigung.
Dinter fasste die bisherigen Erfahrungen mit dem MES Hydra wie folgt zusammen: „Man braucht viel Geduld, da sich die Prozesse nicht so schnell ändern, wie man es erwartet. Der Mensch muss bereit sein, mitzumachen und letzten Endes ist nicht immer alles möglich, was man sich wünscht.“ Gerhardi blickt für den Zeitraum seit MES-Einführung auf eine Verdoppelung der Mitarbeiter und Verdreifachung des Umsatzes zurück – ohne ein derartiges System hätte das sicher anders ausgesehen.
Den Blick von der Gegenwart in die Zukunft gerichtet, versuchte Rainer Deisenroth, Vice President Sales und Marketing bei MPDV, das, was hinter dem allgegenwärtigen Begriff „Industrie 4.0“ steht, greifbarer zu machen. Dabei verglich Deisenroth die anstehenden Veränderungen mit dem Wechsel von einer Straßenkreuzung mit einer zentral gesteuerten Ampel hin zu einem Kreisverkehr mit intelligenten und autonom entscheidenden Verkehrsteilnehmern.
Neben der flexibleren Fertigungsorganisation wird sich in Zukunft auch die Informationsdichte aufgrund wachsender Vernetzung in der Produktion deutlich erhöhen. Moderne Fertigungs-IT-Systeme müssen mit diesen Herausforderungen umgehen können. Anhand der Aufgaben, die die VDI-Richtlinie 5600 einem MES zuschreibt, erklärte Deisenroth, warum MES bereits heute einen großen Teil der Anforderungen von Industrie 4.0 erfüllen.
Ob es sich bei Industrie 4.0 um einen Hype oder um Realität handelt, veranschaulichte Deisenroth mittels Garnterscher Hypecycle-Kurve. „Technologischer Auslöser“ war die Hannover Messe 2011, im Rahmen derer die Bundesregierung den Auftrag erteilte, das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 zu umreißen. Auf dem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ – zur Hannover Messe 2013 – wurde die Umsetzungsempfehlung der Bundesregierung übergeben und der damalige Bundesminister Philip Rösler startete symbolisch die Plattform „Industrie 4.0“. Danach konnte es laut Deisenroth nur noch „bergab gehen“ und nun, im Herbst 2014, sehen wir uns auf dem Weg in Richtung „Tal der Enttäuschung“. Es liegt nun sowohl an den Anbietern als auch am Markt, den Weg weiter auf dem „Pfad der Erleuchtung“ bis hin zum „Plateau der Produktivität“ zu beschreiten.
Als einen möglichen Weg stellte Deisenroth das Zukunftskonzept „MES 4.0“ von MPDV vor und erläuterte, wie die Weiterentwicklung der neun Handlungsfelder

  • Dezentralität
  • integratives Datenmanagement
  • Online-Fähigkeit
  • Flexibilität
  • Interoperabilität
  • Management Support
  • horizontale Integration
  • Mobilität
  • Unified Shopfloor Connectivity

sukzessive und nachhaltig zum Erfolg führen.

Experten im Dialog

Die anschließende Podiumsdiskussion bat neben den genannten Sprechern MES-Anwender Ferdinand Hasse, Vice President Manufacturing Solutions bei Phoenix Contact, und Olaf Sauer, stellvertretender Leiter am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) auf die Bühne. Professor Daniel Großmann von der Technischen Hochschule Ingolstadt leitete die Podiumsdiskussion. Sauer eröffnete die Runde mit seinem Statement zu Industrie 4.0. Seiner Meinung nach sei MES bereits mitten drin in Industrie 4.0 und „somit befinden wir uns bereits auf dem Pfad der Erleuchtung“.
Professor Kletti steht zu Industrie 4.0 in einem ambivalenten Verhältnis. Kletti präferiert eher eine Kampagne für mehr Effizienz und einen Fokus auf das Fertigungsgeschehen an sich. Mit der Steigerung der Transparenz und dem Ziel schnellerer Reaktionsfähigkeit ist allerdings Industrie 4.0 eine wahre Steilvorlage für MES-Anbieter: „Nun müssen wir Industrie 4.0 nur noch auf den Boden der Produktion bringen“, sagte Kletti.
Für Ferdinand Hasse steht Industrie 4.0 bereits seit 2012 im Fokus, da Phoenix Contact auch aktiv an der Umsetzungsempfehlung mitgearbeitet hat. Für Phoenix Contact, einerseits als Anbieter von Automatisierungstechnik und andererseits als Anwender, ist MES ein wichtiges Tool, um die neuen Herausforderungen zu meistern. Der Feststellung, Industrie 4.0 befinde sich auf dem Abwärtstrend, begegnete er mit den Worten: „Nur wer glaubt, man muss sich um nichts kümmern, der landet im Tal der Tränen“.
Jochen Schumacher ist der Ansicht, dass Industrie 4.0 noch zu sehr technologisch getrieben ist. Er wünscht sich einen stärkeren Blick auf die Organisation und sieht eher eine schrittweise Annäherung an eine dichtere Vernetzung und immer mehr selbstregelnde Prozesse.
Alle Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass sich in einem Zeitrahmen von fünf bis zehn Jahren einiges in Puncto Vernetzung, verstärkter Automatisierung und dem Traum von „Plug & Produce“ tun wird. Man kam überein, dass Industrie 4.0 für jedes Unternehmen etwas anderes bedeuten kann. Lediglich das Streben nach mehr Flexibilität, mehr Transparenz und schnellerer Reaktionsfähigkeit sei den meisten Ausprägungen von Industrie 4.0 gemein.
Als Fazit zog Moderator Professor Großmann, dass MES bereits ein erster Schritt in Richtung Industrie 4.0 sei, aber noch lange nicht das Ziel. Insbesondere unterstrich er die Warnung, nicht bereits vorhanden Technologien einfach mit einem Industrie-4.0-Aufkleber zu versehen. Zurücklehnen darf sich die Industrie in Deutschland sicherlich nicht, da sie unter strenger Beobachtung insbesondere aus Ostasien steht. Nichtsdestotrotz sollte keine Entscheidung überstürzt werden – jedes Unternehmen muss sich die jeweils passenden Impulse aus Industrie 4.0 herausnehmen und sich auf das Ziel der eigenen Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren.

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